Ich war acht Wochen dort, hatte keine einziges Einzelgespräch in dieser Zeit mit einem "Therapeuten/in" außer den drei Pflichtgesprächen (bei der Aufnahme, Verlängerungsantrag für Krankenkasse , Entlassung). Das ist mein erster Minuspunkt.
In den wöchentlich dreimal stattfindenden "Stammgruppengesprächen" (ein Patient besucht diese Gruppe dreimal die Woche, stets derselbe Therapeut/in ist zuständig für die Gruppe ) von einer Stunde geht es etwa zu 20- 50 Prozent um Formalien, wie Verlängerung des Klinikaufenthalts aller Gruppenmitglieder, Begrüßung, Verabschiedung von Patienten etc. In den beiden Plenumsgruppen (täglich außer Samstag u. Sonntag), wo in jedem Plenum der Erinnerung nach etwa 50 "Gäste" anwesend sind, kann jeder eigene Probleme vorstellen oder Probleme (Reibereien) mit Mitpatienten, aber stets in einer äußerst formalisierten Art und Weise anhand von Fragen auf einem Zettel, den man vor sich hinhalten und die vier/fünf Fragen darauf abarbeiten muss. Zum "Abarbeiten" dieser vier Fragen braucht man etwa 1-2 Minuten. Auch das Gegenüber (der Konfrontierte) antwortet nicht spontan, sondern anhand des gleichen Zettels mit den selben vier/fünf Fragen. Ich habe die Fragen schon lange vergessen, deshalb kann ich sie hier nicht mitteilen (in einem Ordner habe ich sie abgelegt, im Moment will ich den Ordner nicht aus dem Keller holen). Man kann einem Gegenüber nach dem selben formalisierten Ritual und dem Fragebogen auch etwas positives oder irgend eine Beobachtung mitteilen. Während diesen formalisierten Forumsgesprächen ist in der Regel ein Therapeut anwesend (meistens kommen sie zu spät), der manchmal ein paar Sätze sagt (also etwa 1 Minute Kommentar pro Forumsitzung). Ich finde, dass hierdurch (auch weil die Gruppe 50 Personen hat) für den Einzelnen entschieden zu wenig herauskommt. Daher schon mal ein zweiter Minuspunkt für die Bewertung.
In der Klinik ist Mann/Frau meiner Empfindung nach total auf sich selbst gestellt. Deshalb versucht jeder, mit möglichst vielen Mitgästen ins Gespräch zu kommen, also Kontakte zu knüpfen und von denen irgendetwas hilfreiches zu erhalten, seien es Tips, Informationen, Hilfestellungen, aber vor allem Zuwendung (meistens in Form von Umarmungen). Und das etwa 16 Stunden am Tag, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. An meine eigentlichen Probleme oder gar an ihre Lösung bin ich durch diese Kontakte (natürlich) nicht näher heran gekommen, als mit irgendeinem Fremden, den ich beispielsweise im Hauptbahnhof oder in der Disco getroffen hätte, herangekommen wäre. Etwa die Hälfte der "Gäste" sind Ehemalige, das heißt solche, die schon zum zweiten oder dritten Mal hier sind. Alles zusammen, noch mal ein Minuspunkt.
Als Kernpunkt der "Therapie" wird die "Bonding-Therapie" nach Casriel angesehen (ein deutsches Wort gibt es für diese Therapie meines Wissens nicht, "Schreitherapie" beschreibt meiner Erfahrung nach am besten, was da abläuft). Für diese "Schreitherapie" ist in der Woche ein ganzer Tag reserviert (Mittwoch), alle anderen Veranstaltungen fallen an diesem Tag aus -bis auf die parallel laufende Einstellgruppe, in der es ähnlich wild wie in der Schreigruppe zugeht, z.B. schaffte es ein von auswärts anreisender "Therapeut", einen ihm völlig unbekannten Mann innerhalb von fünf Minuten wegen seiner Lebenseinstellung zum Weinen zu bringen, was ich damals als "genial" empfand, denn so etwas muss man erst mal zustande bringen können; etwa 20 Mitpatienten sind in der Einstellgruppe lediglich Zuschauer; über weiteres möchte ich aber jetzt nicht im Detail schreiben, das würde zusätzlich mindestens drei Stunden Schreibarbeit kosten und weitere drei Seiten Text erfordern. Diese Art von Therapien ("Schreitherapie" und "Einstellarbeit") wird von den schätzungsweise 100 psychosomatischen Kliniken in Deutschland nur an drei Kliniken (Adula, Hochgrat, Herrenalb) durchgeführt.
Man ist in der Schreitherapie (=Bonding) jede Woche Mittwochs von morgens 9 bis abends 15 Uhr in einem mit Gymnastikmatten ausgelegtem Raum. Alle legen sich mit einem Partner, den sie sich vorher in der freien Zeit irgendwie herausgesucht haben, auf die Matten. Einer liegt unten, der andere oben und hält ihn. Dann fängt der untere an möglichst laut und heftig zu schreien. (Irgendwelche individuellen Vorgespräche, "über was soll ich schreien? worüber bin ich wütend ?" gibt es nicht). Wie schon gesagt, dann schreien alle etwa 20 unten liegende Partner im Raum gleichzeitig, ungefähr eine Stunde lang, bis sie alle erschöpft bzw. heiser sind. Dann ist Partnerwechsel und der vorher stille Partner fängt an wie wild zu schreien, auch wenn er gar nicht wütend ist im Moment. Die Therapeuten sagen: "Schreie einfach, es wird schon was kommen. Sei einfach aktiv und schreie! Das ist viel besser als die Einstellgruppe, da ist nur einer aktiv, hier sind alle aktiv". Das geht dann bis mittags 15 Uhr (einschließlich der Mittagessenspause von 2 Stunden). Es gibt keine individuellen Nachgespräche, nur eine kurze Zeit um 15 Uhr, in der sich jeder freiwillig über seine Erlebnisse äußern kann. Diese Art von Therapie wird als der Kern des Aufenthalts angesehen. Sie wird den meisten Patienten wärmstens empfohlen, ob Alkoholiker, Depressiver, Mensch mit Angst auf öffentlichen Plätzen, Mensch mit Partnerproblemen, Eheproblemen, Mensch mit Schmerzen am ganzen Körper/Haut oder Scheidungswilliger, der den letzten Anstoß sucht. Ich habe von der Schreitherapie nicht profitiert. Zum Gegenteil, da trennende Gefühle eher kultiviert werden, ist die Auswirkung auf das eigene Sozialverhalten eher trennender Natur, also meines Erachtens schädlich: weiterer dicker Minuspunkt.
A propos Partnerprobleme: In meiner 10 er Gruppe ( Stammgruppe) wollte sich einer nach Verlassen der Klinik scheiden lassen. Er besprach seinen Entschluss meines Wissens mit keinem "Profesionellen", sicher nicht in der Gruppe. Er gab seinen Entschluss vielmehr eine Woche vor Abreise in der Gruppe einfach bekannt. Dann wurde auf Vorschlag des Therapeuten geübt, wie man den Partner zu Hause am effektivsten "abwimmeln" kann, damit die Scheidung schnell durchgeht, durch ein Rollenspiel. Das heißt, derjenige der sich scheiden lassen wollte, musste die Rolle des nicht anwesenden (bettelnden, zögerlichen) Partners übernehmen. Gruppenmitglieder, die die Situation des nicht anwesenden Partners nicht im geringsten kannten, durften sich spontan melden und dann die Rolle desjenigen übernehmen, der die Scheidung durchsetzen wollte und hart sein musste . Ich habe gestaunt, wie gut das einige konnten, wie viel Brutalität da spontan zum Vorschein kam, ohne vorher eine Minute überlegt zu haben. Versöhnungsversuche oder Alternativen wurden in dem mir bekannten Fall nicht andiskutiert. Ich wollte eigentlich positive Problemlösungsstrategien in der Klinik lernen, auch Gesprächstechniken zur Herstellung der Kommunikation in der Partnerschaft, so genannte "Werkzeuge" zur besseren Problembewältigung in allen Lebenssituationen mitnehmen, aber in meiner Gruppe konnte man nicht ansatzweise derartiges erleben. Der im Webeprospekt genannte "Werkzeugkoffer" enthält meiner Erfahrung nach nur Werkzeuge zur Beziehungs-Zerstörung. Mag für manche nützlich sein. Für mich war diese Erfahrung über das "Wirken und Können" der Therapeutin und ihrer Supervisoren/innen zutiefst deprimierend.
Einzelgespräche mussten bei meiner Therapeutin schriflich auf einem Formular beantragt werden, mit Angabe von Gründen ( bei den anderen Therapeuten weiss ich es nicht). Meinem Empfinden nach ähnelt diese Vorgehensweise -zumindest bei dieser einen Therapeutin- der einer Behörde oder eines Amts. Zugegangen ist diese Professionelle auf mich nie. Was solls, das ist so üblich bei Therapeuten ausserhalb der bezahlen Sprechzeit. Wieder ein Minuspunkt.
Zwei Gäste feierten ihren Geburtstag bzw. Entlassung aus der Klinik mit jeweils einer Flasche Bier im Nachbarsdorf. Da war nachher im Plenum der Teufel los. Sie wurden öffentlich vor dem ganzen Plenum an den Pranger gestellt und meinem subjektiven Empfinden nach von den Therapeuten extrem unfreundlich behandelt, als Regelbrecher (Abstinenzverletzer) , Nicht-Durchhalter, also Versager, Unfähige. Als Zuhörer fröstelte ich ob des autoritären, oberlehrerhaften und unfreundlichen Tons. Von Freundschaft und Verstehen wollen keine Spur: weiterer Minuspunkt.
Übrigens: Alles, wo die Schleimhaut beteiligt ist, ist strengstens verboten! Zwei gaben sich Zungenküsse. Leider erfuhr dies ein Therapeut, die beiden mussten 7 Tage später abreisen. Eng und lange sich umschlingen ist dagegen sehr gern gesehen.
Zum Schluss: etwa 100 Patienten sind stets anwesend, "betreut" von auf der Fototafel gezählten etwa 20 "Therapeuten" mit Universitätsabschluss und etwa 10 "Pflegern" ohne einen Hochschulabschluss. Trotz diesem an sich als positiv erscheinendem Arzt/Patient Zahlenverhältnis hatte ich, wie oben schon gesagt, keine Einzelstunde angeboten bekommen. Eine Einzelstunde hätte ich nur -wie oben schon gesagt- auf schriftlichen Antrag auf einem Formular mit Angabe von Gründen bekommen, wozu ich mich nicht aufraffen konnte, weil ich das Gefühl hatte: "Eigentlich suchen die Therapeuten nicht das Gespräch".
Und ganz zum Schluss: Jeden Abend (19 Uhr) findet eine nach dem Vorbild der von Anonymen-Alkoholikern bekannten 12 Schritte Gruppen eine 12-Schritte Gruppe zum Themenkreis Sexsucht, Arbeitssucht, Beziehungssucht, Alkoholsucht, Co-Abhängigkeit statt. Das sind im übrigen die wesentlichen Begriffe, mit denen in der Hochgrat-Klinik gearbeitet wird. Die 12-Schritte Gruppen sind "effektiver als jede professionelle Sucht-Therapie", so ein Therapeut wörtlich. Es wird deshalb wöchentlich per Fragebogen u.a. abgefragt, wie oft und welche 12 Schritte-Gruppe man in der Klinik besuchte. Mir haben diese Gruppen nichts gebracht, außer dass nach 19 Uhr die Zeit besser ausgefüllt war.
Fazit: Ich bereue es zutiefst, in diese Klinik gegangen zu sein.
3 Kommentare
Das O, ist das Nachsorgekonzept. Da tut man so, als wären die Patienten austherapiert, wenn sie entlassen werden. Arschtritt Punkt, kannst ja wieder kommen... UFF. Das fand ich schon immer fragwürdig. Ist aber leider auch in anderen Kliniken so. Da werden Menschen in die Selbstverantwortung geschickt, ganz nach dem Motto, in der Therapie ist sicher nichts schief gelaufen und daher ist der Mensch sicher stabil genug. Mal hier und da eine Idee, wie es weitergehen könnte, ja die bekommt man schon noch vielleicht. ABER, ob es wirklich einen realen nachbehandelnden Arzt gibt, oder ob das Umfeld, in das man nun entlassen wird, WIRKLICH und real stabil genug ist, das juckt keinen, das wird nicht abgesichert und nicht wirklich hinterfragt.
Es sollte eine Pflichtfrage in jedem Abschlussgespräch sein, nach dem Namen des nun folgenden behandelnden Arztes zu fragen und sich als Therapeut 100% versichern zu lassen, dass der Patient vorgesorgt hat und dort schon einen Termin hat und wenn nicht, ihm gleich im Anschluss einen Termin bei einem Sozialarbeiter zu beschaffen. Aber was maximal passiert ist, dass evtl. in der Diagnose steht - sollte weiterbehandelt werden. TOLL!
Als ich am letzten Tag noch etwas vergessenes planen wollte, hat man mich abgewimmelt mit. "Du hast hier soviel gelernt, Du kommst schon klar!" Joa und dann saß ich da und hatte kein Geld fürs Zugticket. Alles vorbereitet, aber pleite. Toll, vorallem weil ich einige Jahre davor obdachlos war. Nach so eine Entlassung dann irgendwie so nach Hause kommen... Super Abenteuer... super stabilisierend... nicht.
Das geht nicht. Das gilt für ALLE psychosomatischen Kliniken, es ist ein absolutes NO GO, wie man Patienten als versorgt abhackt und so tut, als müsste der Patient nach Klinikausgang nun stabil genug sein, weil das Konzept X ja so großartig ist.
Wer das nun nicht versteht, hat allgemein wohl verstanden, was Psychosomatik tatsächlich bedeutet, trotz evtl. jahrelangen Studien und Doktorttiteln, usw. Es kann nicht sein, dass man Menschen auf diese Weise als quasi geheilt entlassen darf. Eine wenige Wochen Therapie ist lediglich ein Teil eines jahrelangen Heilungsprozesses. Und sämtliche Kliniken, nicht nur die Hochgrat scheinen das wirklich nicht auf dem Schirm zu haben. Grade aber diese Klinik sollte hier ein Vorreiter sein. Das drotige Konzept wäre der Hammer, wenn es wirklich so sensible umgesetzt werden würde, wie es nötig ist.
Zurecht mit höchster Vorsicht zu geniesen!!!